Das Editionsprojekt hamburger-chronik.de
Erstveröffentlichung einer Tratziger-Fortsetzung (1555-1699)
Einführung
Adam Tratzigers Chronik der Stadt Hamburg - Überlieferung und Fortsetzung
Im Jahre 1557 vollendete der Hamburger Jurist und Gelehrte Adam Tratziger (1523-1584) seine Chronik der Stadt Hamburg. Sie umfasst die Zeit von Karl dem Großen bis 1555 und ist in vier Teile gegliedert, die sich an den Regentschaften römisch-deutscher Kaiser orientieren.
Teil 1: Von Karl dem Großen - Heinrich I.
Teil 2: Von Heinrich I. - Lothar
Teil 3: Von Lothar - Friedrich III.
Teil 4: Von Friedrich III. - Karl V.
Das Werk wurde zwar erst im 19. Jahrhundert gedruckt, fand aber eine weite handschriftliche Verbreitung. Dadurch blieben bis in die Gegenwart zahlreiche Abschriften erhalten, die zwischen dem späten 16. und der Mitte des 18. Jahrhunderts angefertigt wurden, und von denen sich die meisten im Staatsarchiv der Stadt Hamburg befinden. Wie es für eine handschriftliche Verbreitung typisch ist, unterscheiden sich die einzelnen Kopien voneinander. Der Unterschied zwischen Abschrift und eigenständiger Fassung erscheint hierbei fließend. Das betrifft einerseits die Überlieferung von Tratzigers Text, der sprachlich verändert, gekürzt oder ergänzt wiedergegeben sein kann. Andererseits wird seine Chronik je nach Anfertigungszeit der jeweiligen Kopie bis in die Gegenwart des entsprechenden Schreibers oder Verfassers weitergeführt. Dadurch existieren unterschiedlich weit reichende Fortsetzungen seiner Chronik, die den Zeitraum von 1555 bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts betreffen. Auch diese Fortsetzungen wurden voneinander kopiert, verändert und ergänzt, so dass deren Text noch uneinheitlicher als der Tratzigers überliefert ist. Während Tratzigers Chronik bereits 1865 in einer modernen Edition gedruckt wurde (als
Tratziger's Chronica der Stadt Hamburg, herausgegeben von Johann Martin Lappenberg, Hamburg 1865), ist eine Veröffentlichung der zahlreichen Fortsetzungen bislang unterblieben. Lediglich in Otto Benekes
Hamburgische Geschichten und Sagen (Hamburg, 1854) sind einige Eintragungen aus Tratziger-Fortsetzungen aufgenommen und in freier sprachlicher Bearbeitung wiedergegeben. Mit der vorliegenden Publikation soll diese Lücke geschlossen und erstmals eine Tratziger-Fortsetzung vollständig veröffentlicht werden. Aufgrund der Uneinheitlichkeit der Fortsetzungen entschloss sich der Herausgeber dazu, nicht aus den verschiedenen Fassungen eine vermeintliche Urfassung zu rekonstruieren, wie es in älteren Quelleneditionen praktiziert wurde, sondern sich für ein Exemplar zu entscheiden. Daher basiert diese Edition auf einer Handschrift, die der Herausgeber 2009 im Hamburger Antiquariatshandel erwerben konnte und sich seitdem in seinem Besitz befindet. Es handelt sich um eine Tratziger-Chronik, die bis 1699 fortgesetzt wurde. Der vollständige Titel lautet:
Der Alten weitberühmten Stadt Hamburgischen Cronica und Jahr Buch von der Zeit Caroli Magni bis auf das Kayserthum Caroli quinti mit besondern Fleiße aus glaubwürdigen Geschichtschreibern, alten Jahr Büchern, Privilegirten Uhrkunden, Recessen und Handelungen zusammen getragen Durch Adamum Tracigerum der Rechten Doctorn und Stadt Syndicum Anno Christi 1557. Den vier Teilen Tratzigers folgen auf 239 beschriebenen Seiten zwei weitere. Sie sind bezeichnet mit
Der Hamburgischen Chronica 5ter Theil. oder desselben Continuation (1555-1672) und
Der Hamburgischen Chronica Sechster Theil. (1673-1699). Da beide Teile den gleichen Umfang haben, ist hieran schon zu erkennen, wie sehr der zeitliche Fokus auf der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts liegt.
Themenbereiche
Die darin geschilderten Ereignisse betreffen unterschiedliche Themenbereiche:
- Spektakuläre Verbrechen und deren Ahndung
- Allerlei Kuriositäten
- Bauvorhaben und Veränderungen an Gebäuden, Straßen und Stadtbefestigungen
- Gründung neuer Institutionen
- Extreme Wetterphänomene und Naturerscheinungen
- Brand- und Flutkatastrophen
- Ereignisse in anderen Städten, Regionen und Ländern
- Beziehungen und Konflikte Hamburgs mit Fürsten, dem Kaiser und Dänemark
- Besuche wichtiger Personen in Hamburg; Hamburger Gesandtschaften
- Besondere Festlichkeiten
- Wirtschaftliche Folgen anderer Ereignisse; Preisschwankungen
- Konflikte zwischen verschiedenen Gremien und Interessengruppen innerhalb der Stadt wie z.B. Rat, Bürgerschaft, Ämtern (Zünften) oder einzelnen Berufsgruppen
- Kirchliche Ereignisse und theologisch-religiöse Konflikte
Besonderheiten der hier publizierten Fassung
Der Vergleich dieser Fortsetzung mit zwei zeitgleichen Tratziger-Fortsetzungen im Staatsarchiv Hamburg (Staatsarchiv Hamburg, 731-1, Handschriften 573 und 64) ergab viele Übereinstimmungen, aber auch signifikante Abweichungen. Vor allem fehlen in diesen Archiv-Exemplaren die teils umfangreichen Berichte über Bürgerschaftsversammlungen und Auseinandersetzungen der Bürgerschaft mit dem Rat, wodurch sich die hier publizierte Handschrift auszeichnet. In vielen dieser Berichte werden die Ereignisse aus Sicht der Bürgerschaft dargestellt und gelegentlich sogar direkt Partei für dieselbe ergriffen, wie beispielsweise bei der Schilderung einer Teuerung und Hungersnot unter der ärmeren Bevölkerung im September 1698. Zudem wird an dieser Stelle dem Rat unterstellt, mit mehreren Fürsten zu konspirieren, um die Bürgerschaft im Verfassungsstreit mit dem Rat zum Einlenken zu zwingen. Hierzu heißt es (Eintrag Nr. 769):
Es hat hierzu der Churfürst von Brandenb(urg) mit dazu geholffen; auch der Chur Fürst von Luneburg, weil Sie kein korn nach der Stadt laßen wollen /:Uhrsache:/ denen Bürgern zu der Com(m)ission zwinge(n) helffen, und mit E(inem) E(hrbaren) R(at) unter eine decke spielten; aber die Bürgerschafft hält veste auf ihre Recesse und privilegien, und wollen von keiner Com(m)ission wißen noch hören. Das Seufzen und wehklagen, das wird Gott hören, und den jenige(n) so uhrsache an der theuren zeit mit seynd, ihren Lohn schon geben, daß ist gewiß. Gott kennet die seinen und Prüffet hertzen und Nieren. Sela. Es liegt daher nahe, den Verfasser oder Schreiber als Angehörigen der Bürgerschaft oder ihr nahe stehend zu vermuten. Darauf deutet auch hin, dass er offensichtlich kein Latein beherrschte, denn viele lateinische Zitate sind entstellt und in fehlerhafter Orthographie wiedergegeben, und die Angehörigen und Vertreter der Bürgerschaft konnten in der Regel weder Latein verstehen noch schreiben (Vgl. hierzu Eintrag Nr. 302 (1651):
(...) weil aber etzliche Grigische und Lateinische wörter darin enthalten, wolten es die 36. Bürger nicht unterzeichnen, sondern begehrten, daß man einen Gelahrten aus jeden kirchspiel solte zu sich ziehen, die ihnen solche Wörter expliciren könten, und blieb es das mahl so dabey. sowie Nr. 746 (1698):
(...) und die weil viel Latein in der Schrifft war, als haben sich die Bürger entschloßen in einem jegl(ichen) kirchspiel ein Gelahrten angenom(m)en.).
Vorlagen und Quellen
Bislang ließ sich für die Berichte zu den Bürgerschaftsversammlungen keine Vorlage ermitteln, aus denen sie kopiert wurden. Hingegen gibt es für den langen Bericht über die Belagerung Hamburgs durch den Dänenkönig Christian V. im Jahr 1686 (Einträge Nr. 598-634), der auch in den genannten Exemplaren des Hamburger Staatsarchivs enthalten ist, eine gedruckte Vorlage. Es handelt sich hierbei um den anonymen Bericht eines Stadtbesuchers, der zum Augenzeugen der Ereignisse wurde:
Kurtze und ausführliche Relation, was sich in wehrender Berennung der Stadt Hamburg in und ausser derselben zwischen Ihr. Königl. Maj. von Dennemarck und obgedachter Stadt von Tage zu Tage begeben und remarquables zugetragen (...), (ohne Ort), 1686. Bei der Bearbeitung der Vorlage wurde die direkte Erzählform in der ersten Person zugunsten eines unpersönlichen allgemeinen Berichts geändert und hier und da etwas ergänzt. Außerdem sind aus der 1696 gedruckten Chronik Wolfgang Henrich Adelungks einige Abschnitte in die Tratziger-Fortsetzungen übernommen (Wolfgang Henrich Adelungk:
Kurtze Historische Beschreibung/ Der Uhr-Alten Käyserlichen und des Heil. Römischen Reichs Freyen- An-See- Kauff- und Handels-Stadt Hamburg, Hamburg, 1696).
Wahrscheinlich lassen sich bei genauerer Betrachtung noch mehr gedruckte oder ungedruckte Vorlagen für diese und andere Tratziger-Fortsetzungen identifizieren. Auch wäre es wünschenswert, die inhaltliche Abhängigkeit und Filiation innerhalb dieser Quellengruppe genauer zu untersuchen. Interessant ist dabei die Frage, ob es mehrere Überlieferungsstränge für unterschiedliche Auftraggeber oder Personengruppen gibt. Jedenfalls versteht sich die vorliegende Publikation als Anfang und Anregung zu weiterer editorischer und analytischer Arbeit mit diesen ergiebigen Quellen.
Mathias Nagel
Hamburg, im März 2017.